Im Moment voll da sein – und ganz weg

Katholische Erwachsenenbildung: Bekannter Theologe und Autor Pierre Stutz mit „50 Filmmomenten fürs Leben”/ Veranstaltung komplett ausverkauft

Kraftquellen: Pierre Stutz entdeckt sie in 50 ausgewählten Kinofilmgeschichten. In Bad Mergentheim hat er einige von ihnen vorgestellt. (Bild: Michael Weber-Schwarz)

Kino kann heilen. Pierre Stutz, mit mehr als einer Million verkaufter Bücher einer der bekanntesten „spirituellen” Autoren, sieht in Filmen die Möglichkeit zum „Heraustreten aus der Enge”.

Die Zuhörer im komplett ausverkauften Saal im Mittelstandszentrum lauschen gespannt. Pierre Stutz, Ex-Ordensmann und mit rund 40 Büchern einem breiten Publikum in Sachen Lebenshilfe bekannt, erzählt aus seinem Leben.

Er war ausgebrannt, alles „fiel wie ein Kartenhaus zusammen”, Stutz drohte psychisch zugrunde zu gehen. Und an diesem „Ende” beginnt er sich selbst umzudeuten. Sein Leben widmet er fortan dem „auf den Grund gehen”.

Stutz erinnert sich vor den Bad Mergentheimer Zuhörern an seine Kindheit. Fernsehfrei aufgewachsen, hatten ihn zwei Kinofilme beeindruckt: Winnetous Tod in Teil drei der Harald Reinl-Trilogie und „Zur Sache Schätzchen” von 1968 mit der kurzzeitig spärlich bekleideten Uschi Glas. Mit dieser „Filmauswahl” bricht Stutz das Eis: Es soll an diesem Abend nicht um „fromme Filme” gehen, sondern viel mehr um Alltag, allen bekannte Lebenswelt und -bilder. Und, was sicher das Wichtigste ist: Getragen wird der Abend von feinsinnigem Humor, der das Herz erreicht.

Voll da - und ganz weg
„Geh hinein in deine Kraft. 50 Filmmomente fürs Leben” heißt einer von Stutz' Topsellern. Das Buch ist 2016 bereits in dritter Auflage erschienen. „Das Kino? Das ist für mich Leben und Spiritualität pur. Weil ich dort tief angerührt werden kann und Momente erlebe, in denen ich voll da bin - und ganz weg”, sagt Pierre Stutz über Filme.

In jedem Menschen liege eine unerschöpfliche, göttliche Kraftquelle verborgen. Anhand von 50 Kinofilmgeschichten zeigt der Autor, wie Menschen zu ihren Wurzeln und neuer Stärke im Leben gefunden haben.

„Kino rührt mich immer wieder an. Es ist für mich auch Meditation”, so Stutz. Dabei geht es nicht um ein unreflektiertes Wegbeamen aus der Realität, sondern um das Gegenteil. Filmszenen können zum Staunen anregen, zum Klagen, das „Schreien nach Sinn” auf die Spitze treiben. Denn Glück, das sind „nicht nur Wohlfühlmomente, sondern solche, „in denen der Panzer aufbricht”. Schmerz gehört in solchen Prozessen dazu.

Woher, woraus schöpft Pierre Stutz? Es sind die großen Mystikerinnen und Mystiker: Teresa von Avila, Meister Eckhart, der Sufi Dschalal ad-Din ar-Rumi.

Letztgenannter hat Stutz' Sicht in einem Gedicht förmlich zusammengefasst: „Freude, Verstimmung, Beklemmung, Geistesblitz, sie kommen als unerwartete Gäste. Heiße sie willkommen, sei zu allen gleich gastfreundlich (...). Der Himmel hat sie Dir geschickt als Weiser Deiner Wege.” Mystik als Erleben, das auf ein „Wirklichkeitsganzes” hin ausgerichtet ist also.

Der 2007 verstorbene Regisseur Ingmar Bergman: „Einfachheit, Konzentration, technische Genauigkeit, Teamwork”, das brauche es für einen guten Film. Und dann braucht es aber noch dieses: den „innersten Lebensfunken, der wesentlich und unkontrollierbar ist.”

Aus einer anderen Perspektive
Pierre Stutz destilliert Filmszenen, in denen er solche Funken aufblitzen sieht, heraus und sortiert sie in sieben Thesenkomplexe - „Ermutigungen” nennt sie der Autor. Im Film „Club der toten Dichter” (Peter Weir, 1989) etwa gibt es eine Szene, in der Robin Williams als Lehrer John Keating seine Literatur-Klasse auffordert, auf die Schreibtische zu steigen. „Das Leben aus einer anderen Perspektive anschauen - Du bist mehr als Deine Verletzungen”, leitet Stutz daraus ab. Und steigt vor seinem Publikum selber auf einen Stuhl.

Der Mensch in extremem Stress, in tiefem Leid: „Wenn nichts mehr geht im Leben, man nur noch Kopf ist, dann muss man sich in Bewegung setzen, um sich wieder zu spüren.” Auch Kino, die bewegten Bilder, könnten dabei helfen, sich wieder in Gang zu bringen. „Es bietet die Möglichkeit zum Heraustreten aus der Enge.”

Stutz zeigt einige solcher Szenen per Video. „Timbuktu” von 2014 erzählt von Jugendlichen, die unter dem Terror von Dschihadisten leben müssen. Weil man ihnen auch noch den Fußball wegnimmt, beginnen sie mit einem imaginierten Ball zu spielen. Als die Religionspolizei auftaucht, verlegen sie sich aufs scheinbar sinnlose Bewegen - sie schaffen sich Raum, statt Affekte zu stauen oder auf Gewalt umzuschwenken. Und sie verlagern sich auf eine andere Wirklichkeitsebene.

Das ist übrigens keine Flucht aus der „Realität”, wie eine weitere Szene mit Fritz Wepper und Hannelore Elsner ("Kirschblüten" von 2008) zeigt. Rudi (Wepper) zieht hier die Kleider seiner verstorbenen Frau an, schminkt sich wie eine japanische Geisha und beginnt zu tanzen. In einer Vision erscheint ihm seine Frau, nimmt ihn bei den Händen, und beide vereinen sich zum gemeinsamen Tanz: eine Wiederbegegnung, ein Weiterleben, eine Versöhnung. Pierre Stutz zitiert Judy Dench ("Philomena", 2004): „... es ist schwerer als schwer, aber noch schlimmer ist es (im Hass) stecken zu bleiben.”

„Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern.” - dieses berühmte Zitat des irischen Schriftstellers Samuel Barclay Beckett markiert für Pierre Stutz das „Eingangstor zur Mystik”. Es hebt das Scheitern als Versagen auf und macht es zu einem Menschlich-Eigentlichen. „Versöhne Dich mit Deinem Leben”, lautet folgerichtig die abschließende Ermutigung. Vielleicht ist das so gemeint: Alles ist gut, weil alles gut ist.

Michael Weber-Schwarz, Fränkische Nachrichten, 17.03.2017, www.fnweb.de