Würde und Zuwendung als Lebenselixier

Aktionswoche gegen Armut: Liga der Freien Wohlfahrtsverbände und Vertreter der Kirchen fordern bezahlbaren Wohnraum

„Bezahlbarer Wohnraum” lautet das Motto der Aktionswoche gegen Armut im Main-Tauber-Kreis. Gestern trafen sich Vertreter von Kirchen und der Liga der Freien Wohlfahrtsverbände.

Main-Tauber-Kreis. „Wenn unsere Leute in Häuser kommen, die dem Standard der 50er Jahre entsprechen und deren Bewohner beim Notfalleinsatz als größte Angst die darauffolgende Rechnung plagt, weil sie nicht krankenversichert sind, entsteht eine Schnittstelle”, sagt Klaus Eckel, Kreisgeschäftsführer des Deutschen Roten Kreuzes Bad Mergentheim. Dann nämlich wird Armut sichtbar. Diese Menschen lebten in tiefster Bescheidenheit, nur werde das Überschreiten zur Existenzgrenze in der Gesellschaft oft nicht wahrgenommen.

Armut hat viele Gesichter, auch wenn sie viel zu oft unsichtbar bleiben. Oft ist es Scham, die Menschen zurückhält, Hilfe beim Amt oder bei der Sozialberatung zu suchen. Manchmal sind es auch Unsicherheit oder schlichtweg Unwissen. Die landesweite Aktionswoche gegen Armut der Liga der Freien Wohlfahrtsverbände, der sich erstmals auch die evangelische und die katholische Kirche angeschlossen haben, will hier aufrütteln, informierte der Liga-Vorsitzende Stefan Schneider, Regionalleiter der Caritas Heilbronn-Hohenlohe. Denn das Thema hat viele Facetten.

„Armut ist, wenn es einem Menschen nicht möglich ist, in Würde zu leben mangels Nahrung, Wohnung und medizinischer Versorgung”, so Renate Meixner, Dekanin des Kirchenbezirks Weikersheim. „Dass es Armut gibt, ist ein Stachel im Fleisch des Christentums”, meint sie. Für ihren katholischen Kollegen aus Tauberbischofsheim, Dekan Gerhard Hauk, lautet die Antwort auf Armut Gerechtigkeit. Er beobachtet, dass die Zahl der Menschen, die Hunger haben, und deshalb an die Pfarrhaustür klopfen zunimmt. Als Skandal bezeichnet er den Spendenaufruf einer todkranken Frau aus seiner Gemeinde für ihre Beerdigungskosten, da sie ihrer Familie nicht zur Last fallen wolle. „Das ist ein Skandal”, so Hauk.

„Es ist das Mindestmaß, dass sich die Kirchen für eine würdige Bestattung einsetzen”, stellt Hayo Büsing, Dekan des Kirchenbezirks Wertheim zu diesem Sachverhalt fest. Überhaupt ruft er dazu auf, Arme nicht als Objekt, sondern als Subjekt wahrzunehmen. Schließlich hätten sie das gleiche Recht auf Menschenwürde wie Bessergestellte.

Ulrich Skobowsky, katholischer Dekan von Bad Mergentheim, setzt arm sein mit ausgeliefert sein gleich. Denn arme Menschen seien in der Regel dem Spiel der Mächtigen ausgesetzt. „Sie können nichts mehr bewirken, weil andere Personen ohne Kenntnis ihrer Person entscheiden”, so der Theologe. Er kritisiert den Mangel an Zuwendung und die fortdauernden erniedrigenden Erfahrungen. Skobowsky: „Der Egoismus feiert fröhliche Urstände bis tief ins bürgerliche Lager hinein.” Rüdiger Krauth, Dekan des evangelischen Kirchenbezirks Boxberg, beklagt neben der materiellen noch die soziale Armut, die letztlich in die Perspektiv- und zur Hoffnungslosigkeit führe. Wenn es keine Sehnsüchte und Träume mehr gebe, sondern allein das Überleben im Fokus stehe, herrsche meist auch geistliche Armut.

Neben der Würde ist für Matthias Fenger, Vorstandsvorsitzender des Caritasverbands im Tauberkreis, die Teilhabe ein Kernelement beim Thema Armut. Eine große Frage sei, was geschehe, wenn der Sozialstaat mit seinen Leistungen am Ende sei und bestehende Hilfsmechanismen nicht griffen. In diesem Zusammenhang übte er scharfe Kritik am Jobcenter. „Es ist ein Skandal, dass die Mietzahlungen nicht mehr direkt an den Vermieter fließen, sondern ausbezahlt werden”, so Fenger. Das sei vor einiger Zeit noch anders und für die Sozialdienste der Kirchen einfacher gewesen. Seither nämlich kämen immer häufiger Menschen mit Mietschulden.

Das bestätigt Wolfgang Pempe, Geschäftsführer des Diakonischen Werks im Main-Tauber-Kreis. Armut habe viele Wirkungen, die sich bei den Bildungschancen oder der Gesundheit zeigten, wenn Kinder in schimmeligen Wohnungen lebten. Zudem fordert Pempe vom Kreis, sich noch stärker im Rahmen präventiver Maßnahmen zu engagieren.

Dass die Wohnungsnot auch in der ländlichen Region angekommen ist und ein Mangel an bezahlbarem Wohnraum besteht, untermauerte auch Werner Fritz, Geschäftsführer der beim Paritätischen Wohlfahrtsverband angesiedelten Jugendhilfe Creglingen. Selbst für den anerkannten und geschätzten Verein sei es derzeit schwierig, Wohnungen zur Unterbringung von jungen Flüchtlingen oder von anderen jungen Menschen, die die Selbstständigkeit proben sollen, zu finden.

Tobias Stindl, stellvertretender Geschäftsführer des DRK-Kreisverbands Tauberbischofsheim, sieht die Hürde, von der relativen Armut in den Mittelstand aufzusteigen, als gewaltig an. Auch er kennt die schwierige Suche nach bezahlbarem Wohnraum. Hier seien alle gefragt, Lösungen zu finden. Dass die Armut zugenommen habe, merke das DRK an der guten Frequenz der Kleiderkammer in der Kreisstadt und dem Rotkreuzladen in Wertheim. Darüber hinaus steige die Nachfrage nach Möbeln, die mangels Lagerkapazitäten aber nicht bedient werden könne.

Swantje Popp, Regionalleiterin der Evangelischen Heimstiftung, weist auf ein anderes Thema hin. „Die Pflege steckt in der Armutsfalle trotz Pflegestärkungsgesetz”, so Popp. Der durchschnittliche Eigenanteil bei den Kosten zur stationären Pflege liege bei 2000 Euro. „Viele Menschen können sich das nicht leisten.” Deshalb fordert die Evangelische Heimstiftung die Einführung eines Teilkaskoprinzips, bei dem der reine Pflegeanteil auf 300 Euro gedeckelt wird. Denn, so die Regionalleiterin: „Für viele Menschen ist es furchtbar, in die Sozialhilfe zu fallen.”

Auf die Misere fehlendem bezahlbarem Wohnraum machen die Liga- und Kirchenvertreter mit ihren Aktionen auf Marktplätzen aufmerksam.. „Wir wollen ein wenig aufrütteln”, so Liga-Vorsitzender Stefan Schneider. Ulrich Skobowsky schlug als einen Lösungsansatz vor, Leerstände in Innenstädten zu Wohnzwecken umzubauen und dies zu fördern. Vielfach sei damit eine Barrierefreiheit verbunden und dem Ausbluten der Innenstädte könne entgegengewirkt werden.

Renate Meixner schlägt vor, nicht nur potenzielle Mieter, sondern auch Vermieter zu begleiten, um Zweifel auszuräumen. Hayo Büsing plädiert, baurechtliche Vorschriften auch mal zu strecken, um Wohnungen in älteren Häusern nutzen zu können. Tobias Stindl warnt vor einer Ghettoisierung, die eine Stigmatisierung nach sich ziehen könne. „Der soziale Wohnungsbau braucht eine Renaissance”, appelliert Wolfgang Pempe. Seines Erachtens bräuchte ein Vermieter keinen Anreiz, um zu vermieten, sondern vielmehr eine Ausfallbürgschaft, wenn die Miete nicht fließe.

Durchaus selbstkritisch äußert sich Gerhard Hauk für die Kirchen. Sie bräuchten eine neue Blickrichtung auf die Armen. Hauk: „Wir haben in der Vergangenheit die bürgerliche Klientel zu sehr in den Mittelpunkt gestellt.”

Mietzahlung
Die Miete zahlt das Jobcenter weiterhin direkt an den Vermieter, wenn eine Abtretungserklärung des Hartz-IV-Empfängers vorliegt oder dem Jobcenter eine zweckentfremdete Verwendung des Geldes bekannt ist. Das teilt Markus Moll, Pressesprecher des Landratsamt, auf FN-Anfrage mit.

Eine solche Erklärung wurde aufgrund einer Gesetzesänderung im Zweiten Sozialgesetzbuch notwendig. Damit sollten Hartz-IV-Empfänger vor dem Generalverdacht geschützt werden, sie könnten ihre Miete nicht selbst überweisen.

Heike v. Brandenstein, Fränkische Nachrichten, 21.10.2016, www.fnweb.de